Direkt zur Hauptnavigation springen Direkt zum Inhalt springen

Fakes und Fakten – Lebensmittelfälschung aus Sicht Max Rubners

Vom Holzmehl in Brot, über Chromgelb in Kuchen zu Pferdefleisch in Lasagne: Das Strecken, Verändern und Panschen von Lebensmitteln ist kein neues Phänomen. Zwischen gesundheitlich harmlos und sehr bedenklich durchwebt Lebensmittelfälschung wie ein roter Faden die Ernährungsgeschichte.

Max Rubner und die Brotfrage

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts als die Naturwissenschaften noch in den Kinderschuhen stecken und die Industrialisierung im Nahrungsmittelsektor in großen Schritten voraneilt, beschäftigt sich auch Max Rubner, Mediziner und Pionier der Ernährungswissenschaftenintensiv mit diesem Thema.
Für ihn sind gestreckte Lebensmittel, je nach Umstand, eine Fälschung oder eine Möglichkeit, wenig Nahrung zu vervielfachen. So nutzt er beispielsweise im Ersten Weltkrieg – Nahrung ist rar und Ersatzlebensmittel sind verbreitet2 – die ihm bekannten Fälschungsstrategien für Brot und untersucht, wie dieses Grundnahrungsmittel zum Zwecke der Ernährungssicherung der Bevölkerung mit Holzmehlen, Stroh und Haselnussschalen möglichst verträglich gestreckt werden kann.3 
Bäckerinnen und Bäcker hatten bis dahin immer wieder Brot und Backwaren stark mit Fremdstoffen versetzt. Vor allem Gips, Schwerspat, Kreide,4 und Chromgelb5 waren beliebte „Zusatzstoffe“, die das Brot schwerer und heller machen sollten. Schwerer sollte es werden, um das Gewicht und damit den Gewinn zu erhöhen, ganz klar, aber warum heller? Weißbrot war lange Zeit nur für die oberen Gesellschaftsschichten erschwinglich. Rubner beschreibt die historische Brotverteilung so: Es gab Brot für die verschiedenen Stände. Das feinste Weizenbrot für den oberen Adel und Hof, ein Hausbrot oder bürgerliches Brot und das dritte Pain bis, ein schwarzes Brot mit Kleie, und ein viertes für die Ärmsten mit besonderem Kleiezusatz.6  Helles Brot war demnach begehrte Ware, weshalb sich Fälschungen hier besonders lohnten.
Zu den zu Streckungszwecken gerne zugesetzten Zutaten gehörten außerdem Kartoffeln.7 Während die anderen hier beschriebenen Bestandteile auch aus heutiger Sicht definitiv nichts in einem Brot verloren haben, gilt Kartoffelbrot in Deutschland mittlerweile als regionale Spezialität. Der „Sejerlänner Riewekooche“ aus Südwestfalen beispielsweise besteht neben Mehl zu einem großen Teil aus geraspelten Kartoffeln. Niemand würde hier aber heute eine Verfälschung vermuten. Die Frage ist also: Wann ist Kartoffelbrot gefälschtes Brot?
Max Rubner definiert 1890, was aus seiner Sicht einen Fälscher ausmacht:  Ein solcher sei zweifellos, wer z.B. rohem, nicht mehr frischem Fleisch durch künstliches Mittel das Aussehen von frisch geschlachtetem gibt, [...], wer einer Waare durch Bezeichnung, Etikettirung eine Benennung zufügt, welche ihrem Wesen nicht entspricht, z.B. Kunstbutter als Butter bezeichnet, [...].8Zwei Facetten von Lebensmittelfälschung zählt Rubner hier auf: die Vortäuschung von Frische und Qualität mithilfe von Zusatzstoffen, die verräterischen Geruch, Geschmack oder Aussehen überdecken sollen sowie die Falschdeklarierung. Letzterer Punkt erfasst den feinen Grad zwischen Fälschung und Nichtfälschung und ist für Max Rubner zentral: Er unterscheidet grundsätzlich zwischen gekennzeichneter Substitution oder Ergänzung von Zutaten und mutwilliger Verfälschung. Dabei stellt er fest: Es wird daher von einer strafbaren Handlung nur dann die Rede sein können, wenn das der Waare gegebene Aussehen, die Benennung, Bezeichnung, überhaupt der Schein ihrem Wesen nicht entspricht.9 Brot mit Kartoffeln ist also zu Rubner Zeiten verfälscht, wenn nicht ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass es mit Kartoffeln gebacken wurde.10 Heute müssen alle Zutaten eines verpackten Lebensmittels deklariert werden. Kartoffelbestandteile im Brot sind dabei keine Fremdzutat mehr, sondern ausdrücklicher Bestandteil von Backwaren. 1993 erließ das heutige Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft die bis heute gültigen "Leitsätze für Brot und Kleingebäck", die unter dem Brotbegriff auch die Zugabe von "Kartoffelerzeugnissen" ermöglichen.11

Staatliche To Do-Liste und wissenschaftliche Unterstützung

Erste Regulierungen der Lebensmittelproduktion finden sich lange vor Rubners Zeit in den Zunftordnungen der mittelalterlichen Städte. Sie gelten vor allem für Bäcker, Fleischer, Bierbrauer und Weinhändler – damals wie zu Rubners Zeit typische Bereiche der Lebensmittelfälschung.12 Zusätzlich gab es eine städtische Marktaufsicht, die in den nächsten Jahrhunderten mit der Lebensmittelkontrolle eine der "wichtigsten Verwaltungsaufgaben" der Städte13 innehatte. Diese besonderen Kontrolleure hatten anschauliche Namen wie „Kornmesser“, „Brotwieger", „Fleischmarktmeister“ und „Weinstecher“ und mussten sogar mit einem Eid ihre Unbestechlichkeit beschwören.14 Entdeckten sie eine Fälschung, wurde deren Urheber rigide bestraft, teils drohte sogar die Hinrichtung. Die Strafe richtete sich meist nach dem Maß der gesundheitsgefährdenden Wirkung bei Verzehr der gepanschten Ware: So erließ Landgraf Wilhelm von Hessen 1651 beispielsweise die Verordnung: […] daß denjenigen, so den Wein […] mit Mineralien, Silberglätt und dergleichen vergiften und schädlich und ungesund machen sich unterfangen, ohne einigen Gnade mit dem Strang vom Leben zum Tode gebracht, diejenigen aber, so die Verfälschung mit Pflanzstoffen, als das sind Zucker, Rosinen und dergleichen, verüben, ausgepeitscht und vor wenige ins Zuchthaus geworfen, auch die Helfershelfer.15 Diese ersten gesetzlichen Bestimmungen unterschieden sich allerdings von Herrschaftsbereich zu Herrschaftsbereich, sodass auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands ein Patchwork verschiedenster Regelungen zu finden war.
Erst im Deutschen Kaiserreich galten Gesetze gegen Lebensmittelfälschung für ein großes zusammenhängendes Herrschaftsgebiet. Sie wurden insbesondere im Zusammenhang mit Brot, Fleisch und Getränke erlassen, so auch 1879 das „Gesetz betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genußmitteln und Gebrauchsgegenständen“.16  Paragraph Zwei überlässt es Beamten der Polizei [...] Proben zum Zwecke der Untersuchung [...] zu entnehmen.17 Doch Max Rubner reicht das nicht aus. Deshalb fordert er 1890 verstärkte und klar strukturierte staatliche Kontrollen und die Etablierung entsprechender Behörden: Der Schutz ist nur wirksam, wenn die zum Verkauf angebotenen Nahrungs- und Genussmittel häufig untersucht werden, und zwar durch Behörden, welche Gewähr für die Erkenntnisse von Verfälschungen bieten […].18 Diese "Erkenntnisse" könnten laut Rubner nur von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kommen, die vor allem neue Methoden entwickeln müssten.19 Lebensmittelkontrolleure waren vor der Geburt der Naturwissenschaften in erster Linie auf ihre Sinne angewiesen: vor allem Geruch, Geschmack und Aussehen von Lebensmitteln wurde geprüft.20 Rubner findet das problematisch, da die Fälscherinnen und Fälscher meist auf dem aktuellsten wissenschaftlichen Stand agierten:21 Die Herausforderung liege darin, dass auch Lebensmittel, die einwandfrei aussehen, riechen und schmecken, gefälscht sein könnten, denn sie seien häufig nur mittelst complicirter Untersuchungen aufzudeckn und zu erkennen.22 
Staatliche Kontrollen auf wissenschaftlicher Basis: Rubners Wunschvorstellung wird schnell Realität. 1907 lassen sich allein in Preußen insgesamt 174 entsprechende öffentliche Einrichtungen in diesem Zusammenhang zählen: 27 auf staatlicher, 49 auf kommunaler Ebene, zehn landwirtschaftliche Versuchsstationen sowie 88 private Labore.23 Damit war eine umfassende staatliche Kontrolle von Lebensmitteln etabliert.24 Die Kontrollen werden mit weiteren gesetzlichen Vorschriften unterstützt: ab 1918 waren beispielsweise Konservendosen zu kennzeichnen, ein Mindestabfüllgewicht zu beachten und Qualitätsnormen einzuhalten.25 1921 zieht Max Rubner deshalb positive Bilanz: Der Staat konnte den Schutz der Gesundheit gegenüber den Gefahren durch verdorbene und verfälschte Nahrungsmittel auf eine gesicherte Basis stellen.“26

Nationales Referenzzentrum für authentische Lebensmittel

Doch auch in den folgenden Jahrzehnten bleiben Lebensmittelskandale nicht aus. Zwar wurden 1975 die teils noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden Gesetze grundlegend reformiert, um die Lebensmittelüberwachung und den Verbraucherschutz weiter zu verbessern,27 doch Lebensmittelfälscherinnen und -fälscher ließen sich davon nur mäßig beeindrucken. Bis heute ist Lebensmittelbetrug ein lukrativer Wirtschaftszweig für Kriminelle. Die anfangs erwähnte Pferdefleischaffäre von 2013 steht mittlerweile fast sinnbildlich für Lebensmittelfälschung im 21. Jahrhundert. Max Rubners Warnung, dass auch für die Zukunft das Maß der staatlichen Fürsorge nicht geringer werden [darf], im Gegenteil, die Not der Zeit [...] mehr wissenschaftliche Arbeit als ehedem28 erfordere, ist deshalb nach wie vor aktuell. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehen sich dabei mit immer findigeren Fälschungen konfrontiert, die neue Nachweismethoden erfordern. Um die entsprechende Forschung in Deutschland zu koordinieren, wurde 2018 am Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel das Nationale Referenzzentrum für authentische Lebensmittel (NRZ-Authent) etabliert, ganz im Sinne des Namensgebers ebenjenes Institutes, Max Rubner.

Mehr Infos zum NRZ-Authent und den MRI-Projekten zur Lebensmittelfälschung finden Sie unter: https://www.mri.bund.de/de/nrz/forschung/

 

Quellen
  • Gesetz, betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genußmitteln und Gebrauchsgegenstände, in: Deutsches Reichsgesetzblatt Band 1879, Nr. 14, Seite 145 – 148, online verfügbar unter: https://de.wikisource.org/wiki/Gesetz,_betreffend_den_Verkehr_mit_Nahrungsmitteln,_Genu%C3%9Fmitteln_und_Gebrauchsgegenst%C3%A4nden (zuletzt aufgerufen am 16.04.2020).
  • Leitsätze für Brot und Kleingebäck vom 19.10.1993, online verfügbar unter: https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Ernaehrung/Lebensmittel-Kennzeichnung/LeitsaetzeBrot.html (zuletzt aufgerufen am 20.04.2020).
  • Rubner, Max: Die moderne Ernährungslehre, in: Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft, Nr. 4, 1922, S. 57-80.
  • Rubner, Max: Die Verwertung aufgeschlossenen Strohes für die Ernährung des Menschen, Archiv für Anatomie und Physiologie / Physiologische Abteilung (1917), S. 74-88.
  • Rubner, Max: Lehrbuch der Hygiene: Systematische Darstellung der Hygiene und ihrer wichtigsten Untersuchungs-Methoden, Neubearbeitung als 3. Auflage, Leipzig 1890.
  • Rubner, Max: Physiologie der Nahrung und der Ernährung, in: Handbuch der Ernährungstherapie und Diätetik, hrsg. von E. von Leyden, Leipzig 1897.
  • Rubner, Max: Untersuchungen über die Resorbierbarkeit des Birkenholzes, in: Archiv für Anatomie und Physiologie / Physiologische Abteilung (1915), S. 83-103.
  • Rubner, Max: Versuche über die Verdaulichkeit der Haselnußschalen, in: Archiv für Anatomie und Physiologie / Physiologische Abteilung (1915), S. 281-285.
  • Rubner, Max: Welternährung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: Naturwissenschaften, Vol. 16, H. 37/38 (1928), S. 713-720.
  • Wassermann, G.: Der Kampf gegen die Lebensmittelfälschung vom Ausgang des Mittelalters bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Eine kulturgeschichtliche Studie, Mainz 1879. (in: Janssen, Johannes: Geschichte des deutsches Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, 8. Band, 1894. Books on Demand).
Sekundärliteratur
  • Eckart, Wolfgang: Illustrierte Geschichte der Medizin. Von der französischen Revolution bis zur Gegenwart, Berlin – Heidelberg 2010.
  • Montanari, Massimo: Der Hunger und der Überfluß. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa, München 1993.
  • Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. Arbeitswelt und Bürgergeist, 1990.
  • Pelto, Gretel H., Pelto, Pertti J: Diet and Delocalization: Dietary Changes since 1750, in: The Journal of Interdisciplinary History Vol. 14, No. 2, Hunger and History: The Impact of Changing Food Production and Consumption Patterns on Society (1983), S. 507-528.
  • Teuteberg, Hans Jürgen: Der Kampf gegen die Lebensmittelfälschung, in: Die tägliche Kost unter dem Einfluß der Industrialisierung, hrsg. von Hans Jürgen Teuteberg, Münster 1988, S. 371-377.
  • Teuteberg, Hans Jürgen: Nahrungskultur. Essen und Trinken im Wandel, in: Der Bürger im Staat, Heft 4/2002.
  • Teuteberg, Hans-Jürgen: Die Geburt des modernen Konsumzeitalters. Innovationen der Esskultur seit 1800, in: Essen. Eine Kulturgeschichte des Geschmacks, hrsg. von Paul Friedmann, Darmstadt 2007, S. 233-361.
  • Teuteberg, Hans, Wiegelmann, Günter: Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluß der Industrialisierung, Göttsingen 1972.
  • Wiegelmann, Günter: Tendenzen kultureller Volksnahrung des 19. Jahrhunderts, in: Ernährung und Ernährungslehre im 19. Jahrhundert. Vorträge eines Symposiums am 5. und 6. Januar 1973 in Frankfurt am Main, hrsg. von Edit Heischkel-Artelt, Göttingen 1973.

 

  1 Für weitere Informationen zu Max Rubner siehe "Max Rubner – Pionier der Ernährungswissenschaften, hrsg. vom Max Rubner-Institut, Karlsruhe 2018.
  2 Eckart, 2010, S. 259.
  3 Rubner, 1914; Rubner, 1915, beide.
  4 Teuteberg 1988, S. 327.
  5 Teuteberg 1988, S. 374
  6 Rubner, 1928, S. 716.
  7 Teuteberg 1988, S. 374
  8 Rubner, 1890, S. 489.
  9 Rubner 1890, S. 488.
10 Teuteberg 1988, S. 327.
11https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Ernaehrung/Lebensmittelbuch/LeitsaetzeBrot.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt aufgerufen am 20.04.2020)
12 Teuteberg, in: Friedmann, 2007, S. 233-361.
13 Teuteberg 1988, S. 372.
14 Teuteberg 1988, S. 372.
15 Wassermann 1879, S. 23.
16 Gesetz, betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genußmitteln und Gebrauchsgegenstände, in: Deutsches Reichsgesetzblatt Band 1879, Nr. 14, Seite 145 – 148, online verfügbar unter: https://de.wikisource.org/wiki/Gesetz,_betreffend_den_Verkehr_mit_Nahrungsmitteln,_Genu%C3%9Fmitteln_und_Gebrauchsgegenst%C3%A4nden (zuletzt aufgerufen am 16.04.2020).
17 Ebd., § 2.
18 Rubner, 1890, S. 487.
19 Rubner, 1890, S. 2.
20 Teuteberg 1988, S. 372.
21 Rubner, 1890, S. 487, siehe auch Nipperdey, S. 126.
22 Rubner, 1897, S. 79.
23 Teuteberg 1988, S. 375.
24 Nipperdey, S. 126.
25 Teuteberg, Wiegelmann, 1972.
26 Rubner, 1921, S. 341.
27 Teuteberg 1988, S. 371.
28 Rubner, 1921, S. 341.